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Ansprache von Antonio Pellegrino
anlässlich der Ausstellung von
Hubert Kretschmer, Jesolo Lido - fotografische Bilder
im Italienischen Generalkonsulat München, Kulturabteilung - istituto di cultura
am 17. September 2002

Phosphene oder das Geheimnis des Sichtbaren

Wissen Sie, was ein Phosphen ist? Ein Phosphen ist die bei Photopsie auftretende subjektive wahrgenommene Lichterscheinung. Und jetzt möchten Sie wissen, was Photopsie heißt. Mit Photopsie bezeichnet man das Auftreten von subjektiven Lichtempfindungen in Gestalt von Blitzen und Funken zum Beispiel bei Reizung der Augen oder bei Störungen der Sehbahnen. Lassen wir die Störungen bei Seite und machen wir es uns etwas einfacher. Wenn Sie sich die Augen reiben, entstehen vielfache Bilder in den schillernsten Farben und zwar Bilder, genauer gesagt, Abbildungen vom dem, was das Auge wahrgenommen hat.
Fosfeni also Phosphene heißt die Gedichtsammlung eines berühmten italienischen Dichters, Andrea Zanzotto, der auf höchst elegante und gleichzeitig unheimliche Weise versucht hat, diesen einfachen, schnellen und gleichzeitig doch komplexen und faszinierenden Prozess literarisch, also in Gedichtform, umzusetzen. Ich erwähne Andrea Zanzotto aus bestimmten Gründen: Er lebt in Pieve di Soligo, einer Kleinstadt in der Nähe von Treviso, im Veneto, also nicht weit weg von Jesolo, dort wo die Bilder von Hubert Kretschmer entstanden sind. Eine Frage drängt sich auf. Zanzotto entwirft gewaltige Sprachbilder durch das raffiniert-exzentrische Spiel mit Wörtern, die wir wiederum mit unserer Vorstellungskraft subjektiv filtrieren und umsetzen. Das rein literarische Material wären in seinem Fall zunächst nur Wörter, Begriffe, alte oder neu erfundene. Wie entstehen aber Hubert Kretschmers Bilder ?

Hubert Kretschmer, meine Damen und Herren, der aus Grainau bei Garmisch-Partenkirchen stammt, hat von 1969 bis 1975 an der Kunstakademie in München studiert. Seine Arbeiten sind im Laufe der Jahre in zahlreichen Galerien ausgestellt worden. Es sind darüber auch Publikationen erschienen.
Somit wäre die Frage zunächst beantwortet: Hubert Kretschmer ist ein Maler. Nein. Hubert Kretschmer ist kein Maler mehr. Er hat den Pinsel an die Wand gehängt, wie er mir selbst gesagt hat. Und die Bilder, die wir heute hier sehen sind auch keine richtigen Bilder. Denn sein Pinsel ist die Kamera. Dennoch ist er kein Photograph im herkömmlichen Sinn. Denn Hubert Kretschmers Fotos sind keine Dokumentarbilder, obwohl er mit der Kamera etwas festhält, was schon vorhanden ist. Rein technisch, entstehen Hubert Kretschmers Bilder anhand eines Prozesses, den er selbst als Vibration definiert. Das heißt: Er bewegt beim Fotografieren die Kamera, oder besser die Hand. Die Bilder werden später wie normale Photos entwickelt, am Computer bearbeitet und von einem Tintenstrahldrucker auf eine Leinwand übertragen. Alles nur Technik also ? Mitnichten. Hinter den Arbeiten von Hubert Kretschmer steckt ein Konzept, ein künstlerisches Ideengebilde: Es handelt sich dabei um die subjektive, individuelle Wiedergabe, um die Reproduktion von Vorhandenem und Vorgefundenem, das der Künstler durch seine ganz persönliche Wahrnehmung und Empfindung darstellt. Es sind Bild-Kompositionen, die bis in die kleinsten Details minutiös entworfen werden. Es sind durchdachte Inszenierungen: es beginnt alles mit der Wahl des Sujets, der adäquaten Lichtdramaturgie, der passenden Farbkonstellation. Das Ergebnis dieses Schöpfungsprozesses sehen Sie hier, bei diesem sogenannten Jesolo-Zyklus.

Was mir an den Arbeiten von Hubert Kretschmer besonders gut gefällt, ist dass aus dem Einsatz der technischen Mitteln am Ende so etwas wie poetische Räume entstehen, in denen das Nahe plötzlich in die Ferne gerückt wird und umgekehrt: Es sind Ausschnitte von Realität so wie sie uns im Alltag begegnet, die wir aber so nicht wahrnehmen. Diese Bilder spielen ständig mit dem Widerspruch zwischen dem Vertrauten und dem unbekannten Neuen und gewinnen in ihren Motiven eine ständige Bewegung und Dynamik. Sie entwickeln eine ganz eigene Bildersprache, mit der Hubert Kretschmer Wirklichkeit scheinbar abbildet, um sie in ihrer Wahrheit und Eigentlichkeit zu entblößen.
"Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare", hat Oscar Wilde einmal gesagt. Und ein österreichischer Dichter, es war Heimito von Doderer, hat diese Erkenntnis auf eine noch kürzere Formel gebracht: "Die Tiefe liegt aussen". Ich wünsche Ihnen viel Freude beim intensiven Betrachten der Bilder und beim anregenden Gespräch mit Hubert Kretschmer.
Vielen Dank!

Antonio Pellegrino

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